Warum?


Die Frage, warum wir grundsätzlich gut beraten sind, uns um fehlerfreie, lesbare und gut aussehende Texte zu bemühen, ließe sich etwas salopp einfach mit drei Punkten abhaken:

  • Wir wollen nicht wie Deppen dastehen.
  • Wir wollen gelesen und verstanden werden.
  • Wir wollen potentielle Kunden nicht vergraulen.

Wer eine noch kürzere, noch prägnantere Antwort auf die Frage nach dem »Warum?« vorzieht, der klicke bitte hier.

Alle anderen sind herzlich eingeladen, weiterzulesen.

Letztes Jahr musste ich mir unerwartet einen neuen »Cloud«-Anbieter suchen. Das Unternehmen, bei dem ich jahrelang mit gutem Gefühl meine Daten gesichert hatte, kündigte an, das Endkundengeschäft einzustellen. Für einen Wechsel wurden zwei Anbieter beworben und die jeweils vereinbarten Migrationshilfen und Sonderkonditionen erläutert. Bei der Firma, die das technisch interessantere Sicherheitskonzept bot, habe ich einen Test-Zugang eingerichtet und ein paar Tage lang alle für mich im Alltag wichtigen Abläufe durchprobiert. Alles funktionierte flott und wie gewünscht, aber letztlich habe ich mich gegen diese Firma und für die Konkurrenz entschieden. Und warum? Weil alle deutschen Texte auffällig fehlerhaft waren.

Natürlich habe ich mich in dem Moment gefragt, ob ich schlichtweg nur ein alter Spießer geworden bin. Warum interessiert mich überhaupt die Textqualität, wenn es doch eigentlich darum geht, dass die Jungs und Mädels sich anständig um ihre Server kümmern und meine Daten sicher verwahren sollen? Ich hätte mir beispielsweise sagen können, gut, alles junge Leute, die eher in ihren Algorithmen als in der Rechtschreibung zu Hause sind. Letztlich war aber dieser Gegensatz genau mein Problem: Warum soll ich jemandem meine Daten anvertrauen, der in dem Bereich, den ich beurteilen kann, eine – harmlos formuliert – ziemliche Nachlässigkeit offenbart? Und: Muss ich dann im eigentlichen Geschäftsbereich, der Datensicherheit, mit der gleichen Nachlässigkeit rechnen? Vielleicht sollte einfach nur das Geld für eine Textüberarbeitung gespart werden. Das wäre dann aber auch nicht wirklich vertrauenserweckend.

Wenn über Sinn und Zweck von Korrektorat und Lektorat gesprochen wird, hört man oft den altbekannten Spruch: »Sie haben nur einmal die Chance, einen guten ersten Eindruck zu machen!« Der Spruch ist wahr, sicherlich. Inzwischen allerdings auch etwas strapaziert, wenn nicht sogar abgedroschen. Zudem, wie man am obigen Beispiel sieht: Es kann weit gravierender sein, wenn ein zweiter oder dritter Eindruck nicht gut ist und den ersten Eindruck vergessen macht.

Ob Sie online publizieren oder klassisch auf Papier drucken lassen, in der Regel werden Sie sich um die Fertigstellung der Texte kümmern und diese anschließend in die Hände eines Grafikers, eines Designstudios geben. Dort werden dann Texte und Bilder, Tabellen und Illustrationen nach Ihren Richtlinien zusammengefügt und in Form gebracht. Der Layouter, Grafiker, Designer (unter welcher Berufsbezeichnung auch immer) achtet dabei auf all die Dinge, die sich im Druck- und Satzgewerbe seit Jahrhunderten herausgebildet haben. Dabei geht es um Schriften und Größen, um Satzspiegel und Formate, um Laufweiten und Abstände, um Kontrast und Harmonie. Erfahrungswerte, die uns helfen, Texte zu lesen. Wissen, das uns hilft, Text und Inhalt zu verstehen.

Aber was passiert eigentlich, wenn wir Text vor uns haben, wenn wir Buchstaben und Silben, Wörter und Textabschnitte betrachten, wenn wir lesen? Nun kann es hier natürlich nicht darum gehen, in die Tiefen der Leseforschung oder der Wahrnehmungspsychologie hinabzusteigen, aber zumindest ein Grundprinzip sollten wir uns vor Augen halten.

Falls das jetzt etwas unvermittelt kam: Spätestens beim zweiten Versuch werden Sie merken, dass Sie den Text tatsächlich gut lesen und verstehen können. Was sagt uns das? Wenn wir einen solcherart durchgerüttelten Text problemlos lesen können, ist die Notwendigkeit eines Korrektorats völlig überbewertet? Nein, natürlich nicht. Aber spannend ist es allemal, was da passiert.

Unser Gehirn macht das, was es seit Menschengedenken macht: Es versucht, uns möglichst energiesparend und möglichst schnell mit allen wichtigen Informationen zu versorgen – strukturiert und auf bisherigen Erfahrungen aufbauend.

In der Schule haben wir gelernt, aus Buchstaben Wörter zu bilden, Wörter zu Sätzen zusammenzufügen und aus Sätzen Texte zu machen. Für das, was wir uns über Jahre und Jahrzehnte als Wortschatz und Textverständnis aufgebaut haben, haben wir immer und immer und immer wieder Wörter und Begriffe in den verschiedensten Konstellationen neu zusammengefügt – beim Hören, beim Lesen, beim Schreiben. Diese Konstellationen stellen Strukturen und Muster dar, die das Gehirn für uns parat hält, uns anbietet, wenn wir Texte lesen.

Solange diese Mustererkennung uns einen ausreichend verständlichen, uns sinnvoll erscheinenden Text erfassen läßt, ist alles in Ordnung. Im obigen Beispiel könnten wir den Text sogar noch etwas weiter eindampfen, zumindest eine Reihe Vokale rausschmeißen, auf Umlaute, Dehnungen und ähnliches verzichten. Würde immer noch funktionieren. Wenn wir aber die jeweils ersten und letzten Buchstaben der Wörter ebenfalls verschieben, fehlen uns sofort zentrale Ankerpunkte und wichtige Überleitungen. Eine Mustererkennung wäre nahezu unmöglich. Wir könnten uns nicht einmal sicher sein, dass wir einen Text in deutscher Sprache vor uns haben.

Solcherart Strukturierung und Mustererkennung bietet uns das Gehirn übrigens in allen Lebensbereichen an. Wenn Ihnen beispielsweise das Radio Schlager präsentiert, können Sie (auch wenn die Musik überhaupt nicht Ihrem Geschmack entsprechen sollte) spätestens nach dem ersten Refrain die Melodie des Viervierteltakters mitsummen, nach dem zweiten Refrain oftmals sogar Textzeilen mit dem Sangeskünstler im Duett vortragen. Mit durchaus guten Trefferquoten. Was letztlich ja auch die zugrunde liegende Idee eines Schlagers ist.

Im Prinzip passiert dabei das Gleiche wie beim Lesen. Nur sind die möglichen Ton- und Harmonieabfolgen sowie das mehr oder weniger Gereimte zum menschlichen Miteinander viel überschaubarer, die Anzahl möglicher Kombinationen erheblich kleiner. Und es ist auch nicht weiter tragisch, falls Sie einen Liedtext mal vollkommen mißverstehen oder beim Mitsingen oder -pfeifen den Ton nicht treffen – das Lied wirkt trotzdem, wenn auch vielleicht bei jedem anders. Und vielleicht auch anders, als vom Songschreiber intendiert. Der Sänger der Eagles beispielsweise (hier müssen die jüngeren Leser unter uns gegebenenfalls Wikipedia bemühen) hat immer mal wieder in Interviews erzählt, dass er bei Konzerten regelmäßig irritiert war, wenn die Band auf der Bühne die ersten Klänge von Hotel California (Wikipedia, wie gesagt) intonierte und das Publikum daraufhin die Feuerzeuge schwang und alle Pärchen sich verliebt in die Augen schauten. Wo das Lied doch wirklich alles mögliche wäre, aber definitiv kein Liebeslied. Tja … die Klage eines unverstandenen Künstlers, der letztlich aber natürlich weiß, dass Musik immer genau so funktioniert.

Bei Musik werden, wie beim Lesen auch, verschiedene Hirnareale miteinander verknüpft. Erinnerungen und Gefühle, Bilder und Emotionen verbinden sich miteinander, eventuell schwingen auch Ihre Hüften oder Sie repetieren irgendwann zuvor gelernte, passende Tanzschritte. Solange Sie aber nicht Dirigent oder Profitänzer sind, passiert das alles relativ entspannt. Eigentlich wird es nur anstrengend, wenn wir gezwungen sind, Musik zu hören, die wir überhaupt nicht mögen.

Beim Lesen jedoch geht es richtig zur Sache. Lesen ist eine überaus komplexe Angelegenheit. Und anstrengend. Aus den für sich genommen zunächst leblosen Buchstaben und Zeichen, die wir auf dem Papier oder auf dem Bildschirm vor uns haben, muss unter Beteiligung und Verknüpfung sehr vieler unterschiedlicher Hirnregionen etwas Sinnvolles konstruiert werden. Und diese Sinnhaftigkeit muss permanent kontrolliert und mit dem bisher vermeintlich Verstandenen abgeglichen werden. Auch wenn wir, wie wir oben gesehen haben, Wörter mit durcheinander gewürfelten oder gar fehlenden Buchstaben verstehen können, funktioniert das nur solange, wie sich für uns durch das Aneinanderfügen der Wörter eben etwas Sinnvolles ergibt. Jede Abweichung, jede Differenz vom zu Erwartenden bewirkt eine Störung. Und jedesmal muss unser Gehirn aufs Neue entscheiden, ob das bisher Verstandene beibehalten und die Störung ignoriert werden kann, oder ob die Störung eine Neubetrachtung des bisher Gelesenen erfordert.

Manche Störungen lassen sich natürlich nicht vermeiden. Wenn im Text beispielsweise Begriffe wie Diethylenglycol, Molekularkinetik oder Mischungsentropie auftauchen, bleibt Lesern ohne chemische oder physikalische Vorbildung ein wirkliches Verständnis des Gesagten und Gemeinten üblicherweise verwehrt. Da mag das Gehirn sich auch noch so bemühen, Zusammenhänge herzustellen, vielleicht auf altes Schulwissen zu rekurrieren. Das Verständnis des Textes wird vage bleiben. Fachtexte sind halt per Definition für ein Fachpublikum. Und es obliegt dem Autor des jeweiligen Textes, das Zielpublikum im Auge zu behalten und im Aufbau des Textes, in der Anbindung an Grafik, Bilder und Tabellen eben das Verständnis dieses Zielpublikums zu berücksichtigen. Didaktisch zu arbeiten. In diesem Fall ist die Aufgabe des Lektors (sofern es sich nicht um einen ausgeschriebenen Fachlektor des entsprechenden Wissenschaftsbereichs handelt) vornehmlich, das Zielpublikum zu spiegeln und Feedback zum Verständnis zu geben.

Ansonsten ist alles, was die Strukturen unschärfer werden läßt, was uns beim Lesen stolpern läßt, was uns zwingt, Sätze oder Halbsätze erneut zu lesen, um den Anschluß zu kriegen und um das Gelesene zu verstehen, das Arbeitsfeld des Lektors.

Und schließlich gibt es neben Inhalt, Form und Struktur des eigentlichen Textes sowie der Kontrolle der Gestaltung auch noch ein paar Nebenschauplätze, um die sich ein »Textkümmerer« kümmern muss. Dinge, die zwar keinerlei direkten Einfluß auf den Leser und das Leseverständnis haben, trotzdem für das nachhaltige Gelingen jeder Publikation wichtig sind – und oftmals Opfer einer (wie wir alle wissen, vollkommen normalen) Betriebsblindheit werden. Stimmen die Angaben im Impressum? Werden die Seitenzahlen eingehalten? Stimmen Kontoangaben und Telefonnummern? Sind Personennamen und Adressen richtig wiedergegeben? Existieren benannte Webadressen oder laufen sie ins Leere? Und vieles mehr.

Sie sehen, es gibt gute Gründe, einen Lektor zu beschäftigen. Ich sage das nicht etwa aus Eigennutz (auch wenn der Verdacht nahe liegen mag), sondern aus tiefer Überzeugung. Und im Bewußtsein, dass der eingangs angebotene Link zu einer ultimativen und prägnanten Antwort auf die Frage nach dem »Warum?« vielleicht ausreichend gewesen wäre … ;o)